AN EINEM ANDEREN TAG

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1

Sie standen einfach vor der Tür. Nicht angekündigt. Sie hatten ihre Mützen auf. Einer war in zivil. Der stellte die Fragen. Ob sie ihn gut gekannt hatte. Ob sie davon gehört hatte. Ob er ein rotes Mofa gefahren hatte. Klar, er war ja ihr Nachbar, und er hatte da ja immer, genau hier, gleich vor der Tür daran herumgebastelt. Und er war ganz stolz darauf gewesen. Manchmal hatten sich ihre Blicke getroffen, wenn er auf seinem Mofa saß, den Helm abgenommen, vor dem Küchenfenster, und sie sich ein Brot machte. In den Nachrichten brachten sie es am nächsten Tag. Ganz oben. Auf der ersten Seite. Im Wald am Wasser hatte man sie gefunden. Sie lebte noch. Mit einem stumpfen langen Gegenstand war sie benutzt worden. Und überall Kippen. Ekelhaft war das. Das rote Mofa hatte man ganz deutlich weg fahren sehen und davon gab es nicht viele. Sein Vater ging von Tür zu Tür und versuchte ruhig zu bleiben. Sein Sohn war kein solcher Mensch. Das hatte er nicht erzogen. Das könnte man gar nicht erziehen. Gegen das Gerede werde er vorgehen. Und sie war sowieso die schlimmste hier in der Gegend, hier auf dem Werksgelände. Verleumdung sei das. Von ganz besonders widerlicher Art.

2

Sie hatte braune Augen und braunes Haar. Und wenn ein Fenster offen stand, konnte er ihre Stimme hören. Er fing leise an zu summen. Wie früher, wenn es regnete im Sommer, und er barfuß über den warmen Asphalt ging. Kleine Steine piksten zwischen den Zehen. Der Wind strich ihr durch das Haar. Er wohnte an einem Bahngleis, das zum Hauptbahnhof führte und zählte jeden Tag das Rattern. Das Haus stand auf einem Werksgelände mit einem Gasometer. Es zischte und brummte und sein Vater kam jeden Tag zum Mittagessen.

3

Er nahm noch ein Gläschen von dem klaren Schnaps, der vor ihm stand. Wieviele er hatte, wusste er nicht mehr genau. Sie hatten sich lange nicht mehr gesprochen. Er war dann bald ausgezogen. Das sei nicht leicht für ihn gewesen. Das Gerede hatte nicht aufgehört. Er musste heute noch immer wieder daran denken. Das rote Mofa hatte er schnell verkauft. Man konnte ihm nichts nachweisen. Der Asphalt unter seinen Füßen war ganz warm wie damals auf dem Werksgelände. Manchmal glitzerte er in der Sonne und durch die Hitze.

4

Er machte den Fernseher aus. So ein Unfug. Das war ja nicht zu ertragen. Diese Dauersendungen. Die liefen schon seit Stunden. Früher wurden die Röhren ganz heiß. Das konnte man spüren, wenn man die Hand oben auf den Fernseher legte. Darum hatte Mutter auch immer gesagt, er solle bitte nichts oben auf den Fernseher legen, sonst werde der so heiß. »Sie sind der Meinung, das war spitze« kam dann immer oder es gab überbackene Baguette vor dem Fernseher mit Eiern und Kochschinken – und Tomaten, die dann so unfassbar heiß wurden. Danach war der Gaumen ganz wund. Und der große blonde Mann mit den bunten Jacken legte den Gästen auf dem Sofa die Hand aufs Knie. Dabei wollte er immer nur sehen, wie wieder irgendjemand Vogelgezwitscher unterscheiden oder Tee rausschmecken kann. Aber das war bevor er 14 wurde. Es war schon halb vier.

5

Als er älter wurde, fuhr er mit dem Rad zum Kiosk. Der verkaufte Zigaretten. Einzelne Zigaretten für ein paar Pfennig. Was für eine Gelegenheit. Kippen kaufen, sich gemütlich irgendwo hinsetzen. Ich fahr noch mal ein bisschen rum, sagte er dann zu seiner Mutter. Vergiss aber nicht wiederzukommen, rief sie ihm nach. Was für eine Idee, dachte er immer. Nicht wieder kommen. Nie wieder kommen. Nie wieder umkehren. Aber dann würde er sie wohl wirklich nie wieder sehen.

6

Sie blieben wie angewurzelt stehen. Ihre Mutter lebte noch. Heute war ihr 83. Geburtstag. Ein stolzes Alter. Eine große Feier. Schönes Wetter. Die Enkelkinder spielten im Garten. Sein Bruder hatte zwei Kinder von zwei Frauen. Er selbst war zum dritten Mal geschieden. Mit der ersten Frau hatte er vier Töchter. Mit der zweiten keine Kinder. Und mit der dritten einen Sohn. Endlich. Dazwischen eine sehr viel jüngere Frau. Die hatte ihm dann ein Kuckucksei ins Nest gelegt. Was für ein Theater. Der Erzeuger war mittlerweile tot und das Kind zur Adoption frei gegeben. Er und sein Bruder hatten sich lange nicht mehr gesprochen. Er wollte ihn auch nicht sprechen. Oder es war besser, ihn nicht zu sprechen. Heute ließ es sich nicht vermeiden. Mutter hatte gerufen.

7

Er genoss die Stille. Das Wasser plätscherte. Im Sommer war es angenehm kühl hier unten. Im Winter konnte man es kaum aushalten. Der Wald grenzte direkt an den Kanal. Er war früher oft hier gewesen. Mit und ohne Begleitung. Es hatte ihn immer beruhigt. Und dann plötzlich nicht mehr. Sein jüngster Bruder war hier beim Baden ertrunken und der älteste konnte ihn nicht retten. Sie waren zu dritt gewesen. Sie hatten im Wasser getobt und dann bekam er einen Krampf. Und irgendwo hier mussten sie sie gefunden haben. Wenige Meter von hier. Eigentlich war es dafür irgendwie viel zu ruhig. In seinem Kopf rauschte es. Er zog an der Zigarette.

8

Die junge Frau hatte einen weißen Helm auf und ein helles Kleid an. Er stand an einem Zebrastreifen. Sie hätte sich festere Schuhe anziehen sollen, dachte er. Der Krümmer wird doch ganz heiß. Das rote Mofa war in einem guten Zustand. Er stand noch eine ganze Weile an der Stelle bis er über die Straße ging. Er wollte sich Zigaretten holen. Er machte weiter. Wie damals. Tag für Tag. Ein Tag nach dem anderen.

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Erzählung von Andy Scholz 2016

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