SCHÖNHEIT. RÄUME. UND RAUSCHEN.

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14. Juni 2012

Dazwischen. Dahinter. Darunter. Darüber. Darin.

Regensburg ist ohne Zweifel eine schöne Stadt. Oder anders formuliert: Wenn wir von der Schönheit einer Stadt sprechen, dann lässt sich sagen, dass Regensburg dieser Vorstellung entspricht. Und für jemanden, der in Wilhelmshaven aufgewachsen ist und im Ruhrgebiet lebt, scheint das Schöne bisweilen umso schöner. Der ideale Ort also, um im Rahmen des Projektes »Spaces« Fotografien zu zeigen. Bilder, Abbildungen und Vorstellungen von Räumen in Regensburg.

Der Leiter der Städtischen Galerie Regensburg, Reiner Meyer, lud mich im Sommer 2011 ein, um exklusiv in Regensburg für meine Ausstellung im Leeren Beutel zu fotografieren. Auch wenn ich meine Aufmerksamkeit nicht auf die allgegenwärtigen Sehenswürdigkeiten des Weltkulturerbes richtete, so entstand doch ein Bild vom Wahrzeichen der Stadt. Ein ideales Motiv für eine Postkarte! Vermeintlich. Und doch anders als erwartet. Denn das Zeugnis der reichen Vergangenheit der Donaumetropole, die Steinerne Brücke, ist baufällig. Teilweise in Bauplane gehüllt und eingerüstet, wird sie restauriert und ihre Statik überprüft. Dem Betrachter bietet sich das Bild einer Großbaustelle. Die Erhabenheit und Geschichte der Donau-Brücke verschwindet unter Planen und hinter Gerüsten, wasserdicht verpackt und eingehüllt. Der Anblick erinnert an das Werk eines Verpackungskünstlers.

Objektiv und unvoreingenommen betrachtet geht es um eine Baumaßnahme mit Restaurationsarbeiten. Das schöne, historische, allseits bekannte Bauwerk sieht nicht mehr so aus wie auf einer Ansichtskarte. Das Erscheinungsbild (die Erscheinung) stimmt nicht mehr mit dem Vorstellungsbild (der Vorstellung) überein – Bild und Erinnerungsbild sind nicht mehr deckungsgleich. Vermutlich zeigt jetzt der Tourist mit seiner Kamera wenig Interesse an ihr, denn sie bietet nicht mehr den bekannten Anblick, den eine gute Sehenswürdigkeit auf einem Erinnerungsfoto haben sollte. Stattdessen liegt die Brücke da wie ein Modell, wie eine Kulisse, wie ein Bühnenbild in einem Theater. Durch die Allgegenwart der historischen und modernen Ansichtskarten von der über 800 Jahre alten Steinbrücke in der Stadt werden eine Vorstellung und eine Idee von dieser Brücke erzeugt. Tatsächlich aber ist die Kulisse nicht mehr die gleiche und schon gar nicht die richtige. Denn egal bei welchem Licht und zu welcher Tageszeit, ob im Frühjahr oder im Herbst, die Brücke ist verändert. Wie bei einem nicht richtig eingestellten Sender ist der Empfang gestört. Das Bild ist gestört. Es rauscht.

Genau dieser Zustand interessiert mich. Die Verhüllung und die Abdeckung von Teilen der Brücke sowie die Einrüstung und die Verpackung mit Plane zum Schutz vor der Witterung und vor äußeren Einflüssen bringen neue Raumeindrücke, Räume und Ansichten zum Vorschein. Dieses Dazwischen, Dahinter, Darunter, Darüber und Darin weckt mein Interesse und meine Neugierde. Ich werfe Blicke auf urbane Zusammenhänge, setze mich mit Stadtstrukturen und -planungen beispielsweise der westdeutschen Nachkriegszeit auseinander und nähere mich Architekturdetails und -formen an. Der Fokus ist dabei immer auch auf die Stadt selbst gerichtet, denn in ihr spiegeln sich die Geschichte und das Gedächtnis der Gesellschaft an sich und das soziale Handeln der Menschen wider. Durch architektonische Planungs- und Baumaßnahmen, Restaurationsarbeiten und Verkehrsführungen im öffentlichen und halböffentlichen Raum entstehen mitunter undefinierte und provisorische Bereiche: Plätze unterhalb von Brückenköpfen, Einblicke in Hohlräume, Zwischengeschosse, Schächte und Kammern, Unterführungen und Tunnel, halbe Treppen, Korridore, Fugen, Schlitze, Ritzen, Lücken, Poren, Kanäle, Öffnungen und Schächte bilden eine eigene Welt und eine eigene Realität.

Diese bereits Anfang der neunziger Jahre vom Anthropologen Marc Augé beschriebenen »Nicht-Orte« und »Unorte« üben eine große Faszination auf mich aus. Augé bezeichnet Flughäfen, U-Bahnen, Supermärkte, Flüchtlingslager und Hotelketten als solche Orte, die seinem Verständnis nach keine Heimat sein können: Man sei nicht heimisch mit und in ihnen. (1) Blicke in diese urbanen Zwischenräume und Grenzbereiche ziehen mich an. Ich generiere Motive aus diesen Orten und nicht zuletzt auch aus den Vorstellungen dieser Begriffe. Ich nehme Räume in den Fokus, die bewusst oder unbewusst aus dem allgemeinen und alltäglichen Blickfeld verbannt sind. Diese Räume sind tatsächlich da. Sie sind allgegenwärtig. Man muss nur genau hinsehen.

Auf der einen Seite sind mir diese Momente der genauen Beobachtung und des genauen Hinschauens wichtig und andererseits kommt es mir auf eine möglichst genaue Abbildung des Sichtbaren an. Letzteres gilt als eine spezifische Eigenschaft der Fotografie an sich. Roland Barthes beschreibt sie 1980 in seinem Buch »Die helle Kammer« und prägte die Begriffe »Spur« und »Index«. Die Erläuterungen des französischen Theoretikers, die zu den Standardwerken über Fotografie gehören, drehen sich dabei unter anderem um die Indexikalität und Referentialität von Gegenständen in fotografischen Abbildungen. Barthes geht davon aus, dass das, was auf einer Fotografie dargestellt ist, tatsächlich da gewesen ist: »Es-ist-so-gewesen« (2). Barthes Theorie verortet dabei die Malerei im Bereich der Imitation, der Nachempfindung von Wirklichkeit, wohingegen das Medium Fotografie Realität eins zu eins abbilde und somit als eine authentische Spur der Wirklichkeit zu verstehen sei. Roland Barthes schreibt: »Von Natur aus hat die PHOTOGRAPHIE (…) etwas Tautologisches: eine Pfeife ist hier stets eine Pfeife, unabdingbar.« (3).

All das entspricht weder meinem Verständnis von Fotografie noch meiner künstlerischen Überzeugung. Barthes Theorien darüber, was Fotografien sind und sein können, gehen mir nicht weit genug. Ich möchte nicht dokumentieren oder nur ein Abbild erschaffen. Ich möchte »darüber« hinaus gehen und das Abgebildete zu etwas anderem werden lassen. Also die Bildidee in den Mittelpunkt stellen und bildhafte Synonyme für das finden, was zunächst einmal zu sehen ist. So wie bei dem eingangs erwähnten Motiv der Steinernen Brück, wo es letztendlich darum geht, dass das Erscheinungsbild nicht mehr mit dem Vorstellungsbild übereinstimmt – die Vorstellung sich nicht mit dem tatsächlich Abgebildeten deckt. Das was wir sehen ist nicht gemeint, sondern das was wir darüber hinaus noch sehen, das, was wir damit assoziieren – was wir fühlen, empfinden, spüren.

Lars Blunck schreibt: »Nicht die bildliche Darstellung und ihr Objekt sind (…) ähnlich, sondern das, was Pierce »eine Idee« des Objekts [des Abgebildeten] und »eine Idee« der bildlichen Darstellung nennt; an anderer Stelle schreibt er auch statt von »Idee« sehr viel treffender vom Ikon als einem »Vorstellungsbild«. Das in der sprachanalytischen Philosophie viel zitierte Bild eines Einhorns ist also nicht unbedingt einem Einhorn ähnlich, sondern dem Vorstellungsbild, das wir von einem Einhorn haben.« (4).

Im Gegensatz zu Barthes stellt Blunck nicht die reine Abbildungsfunktion der Fotografie in den Vordergrund, er sieht das Fotografische nicht nur als ein reines Abbildungsinstrument und eine Reproduktion der Wirklichkeit und des tatsächlich da gewesenen, sondern begreift Fotografie vielmehr als ein die Wirklichkeit konstruierendes Zeichen und Werkzeug. Er schreibt in diesem Zusammenhang sehr treffend weiter, »dass Fotos Wirklichkeiten nicht nur zu »schildern« oder zu »verfälschen« vermögen, sondern sich mit ihnen Wirklichkeiten auch entwerfen lassen (…)« (5)

Damit wird klar, wenn wir den Bogen zum Beginn dieses Textes spannen: In der Abbildung ist Schönheit relativ. Es kommt vor allem darauf an, was wir in den Fokus nehmen und wie. Und so suche ich in meiner künstlerischen Arbeit nicht nach dem touristischen, allgemein bekannten Anblick einer Situation oder eines Ortes, sondern eher nach einer gesellschaftlich-soziologischen, systematisch-analytischen Sicht auf den Raum und das Raumdetail. Wie entstehen diese Räume, diese Nicht- und Un-Orte? Was repräsentieren sie? Was prägen sie? Diese objektive, neutrale und unvoreingenommene Sichtweise wird zu einer subjektiven, individuellen. Der Blick auf und in diese Räume wird zu einem modellhaften, kulissenartigen, konstruierten Bild.

Gute Bilder sind für mich Bilder, die mehr zeigen, als der Betrachter auf den ersten Blick zu sehen vermag. Der Blick kann verstellt sein oder gestört. Oder das Bild entsteht erst im Kopf mithilfe der Vorstellungskraft des Betrachters. Emmet Gowin bringt es auf den Punkt: »Die Fotografie ist ein Hilfsmittel zur Auseinandersetzung mit Dingen, von denen jeder weiß, ohne sich damit zu befassen. Meine Fotografien wollen etwas darstellen, was man nicht sieht.« (6).

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Diesem Essay liegen der Vortrag von Andy Scholz »Räume in Regensburg« vom 14. Juni 2012 im Thon-Dittmer-Palais und die gleichnamige Ausstellung in der Sigismundkapelle zugrunde anlässlich des mehrtägigen Symposiums »Spaces« des Institutes für Kunsterziehung der Universität Regensburg.

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(1) Marc Augé: NICHT-ORTE. Übers. v. Michael Bischoff, München: C. H. Beck 3. Auflage 2012 (Auf deutsch erschien das Buch erstmals 1994 im S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main unter dem Titel „Orte und Nicht-Orte. Vorübergegangen zu einer Ethnologie der Einsamkeit.“)

(2) Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Übers. v. Dietrich Leute, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989 (La Chambre claire. Note Sur la Photographie, Paris: Gallimard 1980), Seite 86: »Die Malerei kann wohl eine Realität fingieren, ohne sie gesehen zu haben. Der Diskurs fügt Zeichen aneinander, die gewiss Referenten haben, aber die Referenten können »Chimären« sein, und meist sind sie es auch. Anders als bei diesen Imitationen lässt sich in der PHOTOGRAPHIE nicht leugnen, daß die Sache dagewesen ist. Hier gibt es eine Verbindung aus zweierlei: aus Realität und Vergangenheit. Und da diese Einschränkung nur hier existiert, muß man sie als Wesen, den Sinngehalt (noema) der PHOTOGRAPHIE ansehen. (…) Der Name des Noemas der PHOTOGRAPHIE sei also: »Es-ist-so-gewesen« (…)«

(3) Ebd., Barthes, Helle Kammer, Seite 13

(4) Lars Blunck: »Fotografische Wirklichkeiten«, in: Lars Blunck (Hg.): Die fotografische Wirklichkeit. Inszenierung – Narration – Fiktion, Bielefeld: transcript Verlag 2010, Seite 14
Anmerkung: Bei dem hier erwähnten Peirce handelt es sich um Charles Sanders Peirce (1839-1914). Lars Blunck zitiert aus: Peirce, »Kurze Logik. Kapitel I«, 1895, in: Christian Kloesel und Helmut Pappe (Hg.), Semiotische Schriften. Bd. 1, Frankfurt a.M. 2000, Seite 205.

(5) Ebd., Blunck, Seite 18

(6) Susan Sontag: Über Fotografie. Übers. v. Mark W. Rien und Gertrud Baruch, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1980, Seite 187

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